content note: abschied, trauer, andeutung von tod
Wenn jemand nach meinem Sommer fragte, zuckte ich häufig bloß die Schultern und murmelte Nichtssagendes wie war okay oder schön oder wie immer, denn wie sollte ich für manche Dinge angemessene Worte haben. Für Dinge, die sich anfühlten, wie diese Songs und Filme, deren Sanftheit und Ästhetik man nachjagte, nur damit einen das Gefühl, das zarte Netze über die Leere tief in unsere Bäuchen gespannt hatte, nicht gleich wieder verließ. Jeder Sommer wurde etwas, dem man nachjagen wollte, und ich wollte nicht darüber nachdenken, dass die Sommer längst vergangen waren, sobald jemand nach ihnen fragte.
Wie sollte ich also Worte finden für unser Haar, mal länger, dann wieder kürzer, aber immer im Wind: auf Fahrrädern, beide Beine neben den Pedalen ausgestreckt, die Augen klein vom Lachen; in Autos mit heruntergelassenen Seitenfenstern, unsere Stimmen lauter als das voll aufgedrehte Radio; auf einem der klapprigen Boote, auf dem einem von uns immer schlecht wurde. Wie unsere rot gefärbten Münder über den Rotwein logen, den wir in staubigen Kisten im Keller fanden und im Garten mit Traubensaft mischten und wie wir glaubten, nie zu torkeln, solange wir uns stützten. Zuckeraprikosen, scharfes Kirschkaugummi und die Peperonipizza aus dem einzigen Restaurant im Ort. Unsere gebräunte Haut als Kontrast zu gelben Rettungswesten, Kondenswasser auf eiskalten Limonadenflaschen und Regentropfen auf blaugestreiften Windbrechern.
Das eine Mal wählten sie ausgerechnet Episode Zwei fürs Sommerkino und wir verbrachten fast den gesamten Sommer damit, darüber zu streiten, welcher Star Wars Film der beste sei. In den ersten Nächten schliefen wir immer draußen auf der Veranda, auch wenn die Frösche und Zikaden uns in den Wahnsinn trieben, und spielten Was du nicht weißt, um uns all jene Geheimnisse zu erzählen, die wir das Jahr über angesammelt hatten. Lila hatte Jasmin auf dem Weihnachtsball geküsst, obwohl sie eigentlich mit Gavin zusammen war. Lucas hatte angefangen heimlich nach der Schule Gras zu rauchen. Ich hatte die Unterschrift meiner Mum auf meinem Chemietest gefälscht. Jon erzählte, dass ihn einer der älteren aus dem Hockeyteam manchmal mit seinem Auto fahren ließ, wenn er selbst nach einer Party zu betrunken war, und wir dachten uns nichts dabei. Das war das Jahr, in dem ihm ein Frontzahn fehlte und die Trampelpfade zwischen unseren Häusern nicht mehr zu leugnen waren. Die Flecken auf unseren Knien und Schienbeinen wechselten von blau zu grün zu gelb, während wir uns idealisierten, als seien wir We Were Liars oder The Summer I Turned Pretty, nur dass wir schon immer schön waren. Miteinander mussten wir nur sein, nie werden. Wir waren vier, bis dem Schicksal auffiel, dass es sich verzählt hatte. In diesem Jahr würde mich vermutlich niemand fragen, wie mein Sommer war, denn in diesem Jahr versuchen wir zu konservieren, während wir uns gleichzeitig darauf vorbereiten, loszulassen.
Ich warte, bis es im Haus ganz still wird, bis niemand noch ein letztes Glas Wasser trinken oder im Schein der Verandalampen ein Buch lesen will. Erst dann schleiche ich über die Treppen in den Wohnbereich, versichere mich ein letztes Mal, dass wirklich jeder schläft, und steige durch das hintere Fenster ins Freie, um den Bewegungsmeldern für die Außenbeleuchtung zu entgehen. Ich laufe, bis der Kies unter meinen Füßen Wiese weicht, springe über Schlaglöcher, die es seit unserem ersten Jahr gibt und an der Ecke zum Feld sind endlich Arme und Stimmen, so laut, dass ein Tier durchs Unterholz davonrennt.
Wir legen uns genau in die Mitte des Feldes, jede Hand berührt eine andere und die Mohnblumen neigen sich am Rand unseres Sichtfeldes sanft im Wind. Mondlicht hat auf der Haut die gleiche Konsistenz wie das Wasser des Atlantiks am frühen Morgen, aber ich habe es nie geschafft, daraus eine schöne Metapher zu bauen.
„Habt ihr euch auch wirklich die Hosenbeine in die Socken gesteckt?“
Nicken im Dunkeln. Nach unserer ersten Nacht hier draußen hatte ich so viele Zecken am Körper, dass wir selbst beim dritten Absuchen noch welche fanden.
„Ich weiß etwas, was du nicht weißt“, beginnt Lila. Über unseren Köpfen fliegen Fledermäuse parallel zum Nachthimmel. Niemand erwähnt das offensichtliche.
Am dritten Tag lassen wir unsere Räder die Hügel herunterrollen, statt in die Pedale zu treten und keiner sagt etwas darüber, dass sich hier in all den Jahren nichts verändert hat. Nicht als vielgesagte Plattitüde, es ändert sich wirklich nichts. Das größte Geschäft im Ort ist immer noch der Antiquitätenladen mit den vergilbten, blassen Postkarten und der blauen, am Rand auffallend gesprungenen Vase im Schaufenster. In den anderen Ladenfenstern hängen schon wieder die Flyer für das Sommernachtskino auf dem Marktplatz, auf dem der Rasen immer schon ganzjährig braun und kränklich ist. Der Supermarkt, in dem es Zahnbürsten, aber auch Motoröl und Angelzubehör zu kaufen gibt, wirbt jedes Jahr mit den frischsten Erdbeeren, als gäbe ist irgendwo in der Nähe Konkurrenz. Der Asphalt unter den Gummisohlen unserer Schuhe ist warm, wir kaufen Grillanzünder und buntes Pergamentpapier. Auf dem Rückweg fragt Lila, ob uns dieser Sommer auch stiller vorkommt.
Wir schlafen zusammen. Auf denselben Luftmatratzen, eingewickelt in dieselben Decken. Das weiche Holz der hinteren Veranda knarzt, wenn sich einer der anderen im Schlaf bewegt. Wir haben eine Matratze zu viel aufgeblasen und Lucas hat nur die Schultern gezuckt und gesagt, dass wir sie liegen lassen können, dass es wie eine Hommage wäre und verdammt, wir hatten doch jedes Jahr einfach das faltige Bündel hier herausgezogen und aufgepustet. Jemand hat vergessen, das Licht im Flur auszuschalten, und jetzt kreisen ein ganzer Schwarm Mücken und Motten über unseren Köpfen. Das Schlagen ihrer Flügel ist das einzige Geräusch, denn aus irgendeinem Grund ist dieses Jahr das Wasser in allen Teichen gekippt. „Alle weg“, hatte einer der Gärtner gesagt, als wir nach den Fröschen gefragt hatten und seine Antwort zum Glück nicht weiter ausgeführt. Am Morgen wache ich mit einer Hand auf der freien Luftmatratze auf, als hätte ich gerade erst in die Leere zwischen mir und den anderen gegriffen.
Wir verbringen einen ganzen Tag damit, das Hinterland und die Strände nach allem abzusuchen, was schön und irgendwie schmuckvoll ist, und einen weiteren Tag damit, alles auf dem alten Floß zu arrangieren und zu befestigen. Wir schneiden das Pergamentpapier in Streifen und flechten es durch die einzelnen Holzstreben oder schnüren es zusammen mit einigen Blumen zu bunten Sträußen. Als es am Ende immer noch ein bisschen leer aussieht, legt Lila die Lücken mit trockenem Seegras aus. Die Briefe würden wir erst erst dann dazulegen, wenn wir es ins Wasser ließen.
Keiner von uns hat Ahnung von Begräbnissen, aber wir hatten alle gewusst, dass sich die Anzüge, das dunkle Holz des Sargs und die feuchte Erde falsch angefühlt hatten. Wir glaubten, wenn einer von uns die Wahl gehabt hätte, irgendwo zu enden, dann hier. Dann dort, wo unsere beste Zeit lag, dann dort, wo das eigene Lachen noch von den Dünen hallte – nicht das Schluchzen einer Trauergemeinde. Das hier war der Sommer, in dem wir versuchten zu konservieren, loszulassen und wiedergutzumachen.
Ich finde seine Laufschuhe, als ich im hinteren Schlafzimmer unter dem Bett saugen will. Es ist fast an der Zeit und ich hatte das Warten nicht mehr ausgehalten. Ich hatte etwas zu tun gebraucht und hätte es gleichzeitig nicht ertragen, einen von ihnen um mich zu haben. Die Schuhe sind noch fest geschnürt, weil Jon sie sich nach dem Joggen immer bloß von den Füßen gestreift und in den Raum getreten hat, bevor er duschen ging. Ich versuche, die Doppelschleifen zu öffnen, doch die Fasern der Schnürsenkel haben sich so sorgsam ineinander vergraben, dass mir zwei Fingernägel einreiße, bevor ich aufgebe. Später, als der Boden nicht nur gesaugt, sondern auch gewischt und gebohnert ist, schiebe ich sie zurück unters Bett. Ich stelle sicher, dass sie so weit unters Bett rutschen, dass man sie selbst mit ausgestrecktem Arm nicht mehr erreicht – als würde ihn das daran hindern, irgendwann gänzlich zu gehen.
Im Nachhinein betrachtet hätten wir das Floß erst am Strand präparieren sollen, denn durch das Schieben, Ziehen und Tragen hat sich die Hälfte der Blumen und Muscheln gelöst. Vom Seegras ist kaum noch etwas übrig. Wir rollen unsere Hosenbeine hoch, beschweren unsere Briefe mit Steinen und erst im letzten Moment, kurz, bevor wir unsere Hände vom Holz lösen, entzündet Lucas die Grillanzünder, die wir unter das verbliebene Seegras gesteckt haben. Einen Moment lang sieht es aus, als würden die Wellen das Floß einfach wieder zurücktreiben, doch gerade, als ich vorschlagen will, dass ich es noch ein Stück weiter rausschieben könnte, denn meine Klamotten seien sowieso schon durchnässt, greift der Sog der Strömung nach dem Holz und zieht es langsam weiter nach draußen. Wir hatten gehofft, dass die kleinen Gluthäufchen zu einem echten Feuer heranwachsen würden, aber als wir uns in unserer nassen Kleidung ans Ufer setzen und aufs Meer hinaussehen, sind dort immer noch nur Glut und dünne Rauchfäden. Es fehlt an Musik. Ich bin mir plötzlich sicher, dass Jon gern welche gewollt hätte, aber keiner von uns hat daran gedacht. Wenigstens fühlt sich das hier richtiger an als der Leichenschmaus im Gemeindehaus. Ich hatte gedacht, dass Abschied nehmen beim zweiten Mal, wenn man es richtig machte, einfacher werden würde, doch jetzt wird es so still zwischen jeder Welle, dass es mir das Herz zerdrückt.
„Ich weiß etwas, was ihr nicht wisst“, sage ich leise und wische mir die Tränen mit meinem Unterarm weg. „Ich hab seine Jacke behalten. Die, die er mir letztes Jahr geliehen hat, weil es die ganze Zeit nur geregnet hat. Als hätte ich geahnt, dass mir seine Umarmungen mal fehlen würden. Keine Ahnung, ist dumm.“
Ich hatte sie nicht mit Absicht behalten, es hatte einfach nur keine Gelegenheit mehr gegeben, sie Jon zurückzugeben. Lila legt mir von links den Kopf auf die Schulter und zieht leise die Nase hoch, Lucas greift nach meiner Hand. Hätte man uns gefragt, hätten wir gesagt, dass Jon das Herz war, nur um uns dann gegenseitig zu unterbrechen, denn er war auch das Lachen und der Motor hinter allen dummen Ideen. Jemand, vermutlich Lucas, würde lachend behaupten, er sei die Leber gewesen, schließlich war die Sache mit dem Rotwein seine Idee und er war es auch gewesen, der uns das erste Mal mit Jello Shots in Berührung gebracht hatte. Wenn man Jon nur lang genug den Rücken zugewendet hatte, hatte er einem letztendlich von irgendeinem Dach entgegen gewunken und gerufen, dass sie Aussicht dort oben fantastisch sei. Es war auch Jon, der unsere Schläfen geküsst und gesagt hatte, dass das alles schon nicht so schlimm sei.
Lila hatte Recht und irgendwie auch nicht, denn es war nicht dieser Sommer, der stiller war als die anderen, aber es war der Sommer, in dem seine Abwesenheit lauter war als alles andere.