Wir sind ständig auf der Suche. Nach den Dingen, die verloren gingen. Jenen, die wir zu brauchen glauben und all dem, was sich so verdammt gut anfühlt. Und weil es unangebracht ist, dass ich einfach so Vermutungen über Fremde anstelle, sage ich lieber: Ich bin auf der Suche. Immer. Ich suche nach den Überbleibseln der 19-jährigen Sarah. Nach etwas, was mindestens so gut ist, wie der erste Irish Coffee, damals, vor eintausend Jahren. Ich suche nach einem Surrogat für das erste Twinni hinter der Grenze, für Fuck, ich kann das Meer sehen, für Berge und den Nachthimmel im Tal, für diesen einen Menschen. Immer für diesen einen Menschen.
Ich suche nach dem richtigen Kontrast.
Freitag oder Samstag, irgendwann weit nach Mitternacht. Wenn ich könnte, wie ich wollte, wäre ich tequilatrunken und würde, jetzt oder erst in ein paar Stunden, über irgendeine Schwelle taumeln. Die Nacht würde mich ausspucken, der Lärm stünde noch dumpf hinter zugeschlagenen Türen. Musik, Gesprächsfetzen, Menschen – all das würde noch an mir kleben.
Es ist so einfach, Lärm zu finden. Ich könnte die nächste Kommentarspalte einer beliebigen Nachrichtenseite aufrufen, denn da wird grundsätzlich nur geschrien. Aber ich drehe die Musik auf meinen Kopfhörern derart laut, dass daneben nichts mehr existiert, statt Stumpfsinn im Internet zu lesen, denn hier soll sich Lärm gut anfühlen. Das ist nicht diese Party und erstrecht nicht dieses Konzert, das ist immer noch nur eine Frau in ihrer winzigen Wohnung. Doch wenn die Musik laut genug ist, kann ich so tun, als gäbe es einhundert Gründe zu tanzen.
Wir waren an der Schwelle stehengeblieben, über die ich taumeln würde. Wo in diesem Szenario ist der Kontrast? Wo finde ich Stille?
Ich würde ganz kurz bereuen, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe, denn das wäre ein Moment für Nikotin, und dann ohne Zigarette ins nächste Taxi fallen. Wer auch immer dort hinter dem Steuer säße, ich würde zu hören bekommen, wie es so ist, als Taxifahrer*in, freitags oder samstags, jenseits von Mitternacht, und dabei hoffen, mich nicht übergeben zu müssen.
An dieser Stelle vielleicht ein Funfact. Ich hab mich noch nie in einem Taxi übergeben, mir fehlen aber ausreichend Finger, um abzählen zu können, wie oft ich schon aus der Bar ins Taxi geschmuggelte Drinks in Fußräumen verschüttet habe – so viel zur Irrationalität von Ängsten an dieser Stelle.
Spätestens zwei Kreuzungen vor meiner Wohnung würde ich mich absetzen lassen, denn das hier, diese zehn bis fünfzehn Minuten Fußweg zu meiner Wohnung, das ist das Highlight jeder guten Nacht. Das hier lässt jede schlechte Nacht versöhnlich enden. Das ist der nötige Kontrast: Der diffuse, kurze Moment, in dem eine Großstadt stillsteht. Und das ist auch die Crux. Großstädte sind niemals still. Nie so richtig. Aber es gibt ein kurzes Zeitfenster, in dem sie sich ruhig anfühlen.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich hab seit 2018 keine Ahnung mehr, wie sich Stille anhört, denn seitdem sitzt mir ein ziemlich lauter Tinnitus im linken Ohr.
Aber wenn du jemals mit nackten Füßen auf dem warmen Asphalt einer Großstadt bei Nacht gestanden hast und deine Kopfhörer dir ganz zufällig die zweite Hälfte von Hold on (Goodbye to all of that) von den Crippled Black Phoenix ausspucken – dann weißt du, was ich meine, wenn ich von vollkommener Ruhe spreche. Wenn um einen herum die Stadt so zum Erliegen gekommen ist, dass Ampeln kaum noch eine Rolle spielen, Autos nicht mehr stattfinden und sich die Luft ungehindert durch die Straßen bewegen kann. Ich mag Stille nicht mehr hören können, dafür kann ich sie umso besser spüren. Genau das, dieser Moment, ist der perfekte Gegenpol zu Aufruhr, Menschenmenge und Lautstärke.
Von ganz laut zu ganz leise.
Ich hab’s mit Yoga versucht. Mit Meditation. Bin die Strecke zwischen den Kreuzungen und meiner Wohnung wieder und wieder abgelaufen. War spazieren. Hab auf Parkbänken gesessen und mir beim Baden Kerzen angezündet. Nichts davon hat sich auch nur annähernd ruhig angefühlt. Vielleicht ist Ruhe kein Zustand mehr, wenn alle schreien, wenn keiner mehr aus Bars stolpert und Nächte eigentlich nur zu kurze Regenerationspausen zwischen tagtäglichem Wahnsinn sind. Vielleicht muss der Lärmpegel gerade zu weit ausschlagen, dachte ich, ehe ich Ruhe buchstäblich auf dem Boden meiner winzigen Wohnung fand.
Freitag, Samstag, fuck it, vielleicht auch Dienstag. Irgendwann weit nach Mitternacht. Das Licht gelöscht, kein Ton mehr. Die Nachbarin einen Stock drüber schläft längst, das Pärchen in der Wohnung daneben stöhnt nicht mehr das Haus zusammen. Niemand knallt mehr Türen oder führt Unterhaltungen im Flur. Ich habe die Musik ausgeschaltet, liege, den Rücken flach auf dem Teppich, auf dem Boden meiner Wohnung, die Beine im 90 Grad Winkel zur Wand. Ausgestreckte Arme, die Finger sind abgespreizt. Der Boden unter den einzelnen Kuppen ist kühl. Ich fühle alles. Glaube zu spüren, wie sich die Erde unter meinen Händen bewegt, aber:
Kein.
Ton.
Mehr.
Das ist genauso wenig Großstadtruhe und warmer Asphalt unter nackten Füßen, wie Kopfhörer und Musik echten Lärm ersetzen. Ich tue so, als ob. Vielleicht ist das die Art und Weise, wie die Welt jetzt gerade funktioniert. Es ist fast das richtige Gefühl, fast der perfekte Kontrast. Vielleicht ist alles, was wir finden, nur eine Annäherung an etwas Verlorenes. Nie mehr.
Vermutlich spüre ich Weltschmerz, während ich da auf meinem Fußboden liege. Und vermutlich spüre ich auch nicht, wie die Erde sich regt, es wäre immerhin viel wahrscheinlicher, dass sich die Erde unter meinen nackten Füßen auf Asphalt regt, als unter meinen Fingerspitzen auf Buchenholzlaminat. Vermutlich spüre ich nichts weiter außer mir selbst. Nicht die Erde regt sich, sondern jeder Aufruhr in meiner Brust. Und vielleicht braucht es diesen Moment, in dem endlich alles ganz ruhig in mir wird.