Wie schön war’s bitte?
Mein Hirn kann zwei Dinge besonders gut: Popsongs aus den 2000ern wortgetreu rezitieren, und Vergangenes romantisieren (es kann also, offensichtlich, eigentlich nur eine Sache besonders gut). Ich denke nicht in erster Lockdown und Lockdown light, ich denke: wie schön war eigentlich die Zeit zwischen März und Juni?
Feierabendgin auf dem Balkon, die Bluetoothkopfhörer waren noch neu und die Baustelle nebenan nur ein Schlammloch, aus dem irgendwas wachsen sollte. Die Bauarbeiter hörten auf Shirts zu tragen, meine Nachbarin kaufte sich ein Keyboard und ich hatte trotz allem noch ein aktives Tinderprofil. Ich bekam ein paar einzelne Sommersprossen auf dem Nasenrücken und hatte annähernd so etwas wie eine Sommerbräune.
Ein Typ aus dem gleichen Viertel und ich romantisierten uns eine Weile datingappuntypisch aus der Distanz. Er ließ mich seine Bachelorarbeit lesen, ich erzählte ihm meine schlechtesten Witze. Beides wirkte. Wir vergaßen, dass wir gerade in dieser Pandemiesache lebten, verdrängten meinen Risikogruppen- und allem voran seinen Beziehungsstatus.
Ich würde gleich neben dem Kran wohnen, schrieb ich. Von da an bekam ich Fotos von allen Kränen in der Nachbarschaft.
Er fand den Kran, doch wir nicht einander, denn da war diese Sache mit der Pandemie, die Einteilung in Normalsterbliche und Risikogruppen und, ach ja, seine Freundin.
Jedenfalls: Tanzpartys in der Küche. Der Gedanke, dass das Wandakonzert Ende des Jahres doch vielleicht, ganz bestimmt, unter Auflagen, ich könnte mir bis dahin ja eine Plastikkapsel mit eigenem Belüftungssystem basteln. Und weißt du noch, Faber? Zwei Wochen bevor alles dicht gemacht hat? Das war der schönste Abend aller schönsten Abende. Wir haben uns in Videocalls mit unseren Kaffeetassen zugeprostet. Das Home-Office sorgte dafür, dass ich jeden Morgen um halb acht am Schreibtisch saß und weil es dort eigentlich nichts zu tun gab, nahm ich das Studium wieder auf. Selbst die Sache mit dem Yoga wurde Routine.
Ich wurde das erste Mal angefragt, etwas für ein Onlinemagazin zu schreiben. Ich schrieb eintausend Zeichen für 1000Zeichen. Überhaupt: ich schrieb so arg viel. Und besser als jemals zuvor. Warum hab ich damit eigentlich nicht viel früher angefangen?
Ist das dann der Nullpunkt?
Wie schön bitte war’s? Gar nicht mal so sehr wäre die ehrliche Antwort. Denn da war die ewige Angst, meinen Job zu verlieren, weil ich plötzlich absolut nutzlos war. Und ‚absolut nutzlos‘ macht sich schlecht auf dem Arbeitsmarkt. Da war die Angst, weil eben Risikogruppe. Das frenetische Händewaschen. Das hektische Einkaufen morgens früh, sobald der Supermarkt öffnete. Da waren all die Dinge, die ich getan hab, um mich von der Angst abzulenken. Feierabendgin, zum Beispiel. Tindern, obwohl ich sehr genau wusste, dass ich die nächsten 250 Jahre keine Dates haben würde. Und dann kam dieser Zusammenbruch.
Vielleicht liegt es am fehlenden Gin. Am fehlenden Sonnenlicht. Oder daran, dass die Bauerarbeiter jetzt immer warm angezogen sind.
Jedenfalls sagte eine Freundin letztens, dass sie beim Abhören meiner Sprachnachricht Tränen in den Augen hatte. Ich hatte so etwas wie eine amüsante Anekdote aus dem Leben einer Isolierten erzählen wollen. Etwa so: Ich hab meine Topfpflanzen nach den Mitgliedern der Backstreet Boys benannt. Oder: Wenn ich abends den Abwasch erledige, beantworte ich immer imaginäre Interviewfragen. Doch gesagt hatte ich: Gestern hab ich auf der Couch gelegen, die Arme vor der Brust verschränkt und plötzlich hat sich das angefühlt wie umarmt werden, und dann hab ich geheult wie ein sehr hysterisches Baby, weil ich seit über acht Monaten nicht mehr umarmt wurde.
Wie gesagt, eigentlich hatte ich witzig sein wollen. Aber ich seh’s jetzt selbst.
Ich bin trauriger in diesem zweiten Kapitel von etwas, das etwas ist, aber sicherlich nichtmal annähernd der Definition eines Lockdowns entspricht. Oder ich mache mir weniger vor. Vielleicht geht mir ein bisschen die Puste aus. Es gibt keinen Feierabendgin auf dem Balkon mehr und Tinder hab ich nach dem Polyboy deinstalliert. Das Haus nebenan, das anfangs nur ein schlammiges Loch war, ist quasi fertig. Der Kran ist weg.
Und wenn alles weg ist, wenn da nur noch ich bin, ist das dann der Nullpunkt? Ist das jetzt die Zeit, die mein Hirn später einmal romantisieren wird, als den Zeitpunkt, ab dem alles bergauf ging?