childhood friends are like open wounds
– unknown
Ich ziehe die Beine unter, lege den Stoff meines Kleides so, dass ich nicht zur Hälfte entblößt am Tisch sitze und lasse mir noch eine Scheibe von dem Brot geben, dass sie heute Morgen erst gebacken hat. Ihr Sohn kommt nur kurz an den Tisch, schiebt sich ein Stück Banane in den Mund und ist dann schon wieder in seine Spielzeugautos vertieft. Vor fünfzehn Jahren haben wir zusammen Tequila getrunken und sie hat davon gesprochen, genau das hier zu wollen: Kind und Familie, die großen Räume mit den hohen Decken, die jedem einen Platz bieten, das subtile Gefühl von Angekommensein in jeder Ecke.
Ich will nach meinem Tee greifen als sie sagt: „Weißt du, dass sich G. ein Boot gekauft hat?“
Ich stocke, verharre mit den Fingern über der Tasse und will, in einem ersten Impuls, fragen, ob ich doch einen Schuss dazu bekommen könnte. Irgendwo in meinem Brustkorb zieht es dumpf. Nicht der große, raumgreifende Schmerz, nur ein leises Weißt du noch?
„Er hat bitte was?“
„Sich ein Boot gekauft.“
„Weiß er, dass wir hier nicht am Meer leben, wo ein Boot wenigstens Sinn ergeben würde?“
Sie zuckt die Schultern. „Vermutlich.“
Ich lasse die Hand an der Tasse endlich sinken. „Wer zum Teufel kauft sich denn bitte ein Boot?“
„G.“
Ich verstumme, weil mir so schnell keine passende Bemerkung einfallen will. Wir verfallen oft in diese Momente. In Was macht eigentlich?, Wie geht es [ ]? und Weißt du noch?. Vor allem letzteres ist häufig verknüpft mit Was wäre wenn? – und wir wissen alle, wie bitter diese Frage sein kann. Endlos viele Jahre Freundschaft und diverse Liter Tequila bringen diese Fragen unweigerlich mit sich, außerdem ist sie im Gegensatz zu mir nicht nur eine kurzweilige Silhouette im Leben anderer.
G. war diese Sache. Dieser falsche Zeitpunkt, dieses immer wieder versuchen, dieser dumpfe Schmerz in der Brust und dieser Streit im letzten Jahr. Ich habe den Tee und das Brot längst vergessen, mein Kopf windet sich um eine einzige Frage: Was wäre, wenn diese Geschichte ein kleines bisschen anderes gelaufen wäre? Kein großer O.-Henry-Twist, nur ein Stück weiter in die eine oder andere Richtung. Vielleicht würde es dann alles, was jetzt ist, alles was ich jetzt habe, nicht geben, weil es in meinem Leben stattdessen ein Boot in einer meerfernen Stadt gäbe.
Es ist nur der Bruchteil eines Moments, in dem all diese Dinge aufblitzen, die mein Leben definitiv nicht hat. Vielleicht gäbe es eine Doppelhaushälfte, einen Garten, gemeinsame Konten, ein gottverdammtes Boot und Sicherheit. Und das ist der Moment, in dem die Beklemmung einsetzt. Ich wäre wie E.T. in diesem Gartenschuppen, fremdartig und so fern der eigenen Heimat, das eigene Herz dunkel, denn alles hieran ist falsch. Fuck, ich will nach Hause
„Ein gottverdammtes Boot“, sage ich wieder und greife endlich nach der Tasse. „Reicht es nicht, dass ihr alle gerade heiratet und Kinder macht?“
Am gleichen Abend sitze ich auf dem kühlen Fußboden meiner Wohnung. Ich trage keine Hose zu dem ausgeblichenen Bandshirt, nicht für den männlichen Blick in all dem hier, sondern aus Bequemlichkeit, und dippe vegane Dinonuggets in Ketchup. Ich habe nirgendwo zu sein, muss niemandem gefallen; es gibt hier keine Person, die ich teilhaben lassen muss. Durch das gekippte Fenster dringt immer wieder das Rauschen vorbeifahrender Autos und auf dem Balkon hat es sich eine Taube, die ich irgendwann scherzhaft angefangen habe Henri zu nennen, auf dem Dach meines Vogelhäuschens bequem gemacht.
Als wir achtzehn waren, Tequila tranken und sie sich Familie wünschte, habe ich von einer winzigen Wohnung in einer Großstadt geredet. Von Brotjobs und Kunst, die irgendwann, wenn ich schon nicht mehr daran glaubte, die Brotjobs ablösen würde. Ich träumte von Unabhängigkeit und Liebhaber:innen. Davon, niemals jemandem etwas schuldig sein zu müssen und einem seltsamen Haustier, das eher zufällig in mein Leben kommen würde – allerdings hatte ich eher mit einer hässlichen Katze namens Leberwurst statt einer Taube namens Henri gerechnet. Ich träumte nie von einer einzelnen Person in all dem.
Trotzdem greife ich nach meinem Handy, gehe die kurze Liste an Kontakten und archivierten Chats durch, bis ich bei der stillgelegten Unterhaltung von mir und G. stoppe. Meine Finger schweben über dem leeren Textfeld wie Stunden zuvor über der Teetasse. Nicht wegen des Bootes, der Doppelhaushälfte oder dem Gefühl von Sicherheit. Sondern wegen des dumpfen Ziehens in meiner Brust.