I give up and the water is so goddamn cold it keeps me alive forever, which is another way of dying again and again and never quite being dead.
Michael Lee – The Only Worlds We Know
Ich komme einmal im Monat her und immer schickt mich eine der Arzthelferinnen in das Sprechzimmer am Ende des Flurs auf der rechten Seite. Es ist das größte von allen Sprechzimmern, mit einer Fensterfront an zwei Seiten. Von hier hat man freie Sicht auf das Garagendach, auf dem ständig Elstern und Krähen nach Futter oder Nistmaterial suchen. Es ist ein guter Ort, um zu weinen. Hell und geräumig, weitaus weniger bedrückend als jedes andere zur Auswahl stehende Zimmer. Auf dem Eckschreibtisch, auf der Seite des Patienten, steht eine Taschentuchbox.
Jedes Mal, wenn die Ärztin das Sprechzimmer betritt, zucke ich kurz zusammen, entweder weil ich zu sehr in meine Vogelbeobachtungen vertieft war, oder weil mich die Anspannung des hier Sitzens schier wahnsinnig macht. Jedes Mal fragt sie, wie es mir ginge und jedes Mal reden wir darüber. Manchmal bin ich wütend, meistens bin ich erschöpft, aber eigentlich hat sich nichts verändert. Wie auch, schließlich ändert sich nichts.
Und dann, jedes Mal, bevor ich den Stuhl zurückschiebe, das Sprechzimmer verlasse und mir am Empfang eine neue Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geben lasse, fragt sie, ob sie noch etwas für mich tun könne. Ob ich noch Fragen hätte. Hab ich. Einen Haufen. Und in der Essenz nur eine einzige: Wie überlebt man – wenn man überlebt hat?
Bei meinem letzten Date vor der Pandemie und vor meiner monatlichen Einkehr in eben jenes Sprechzimmer, saß ich einem Mann gegenüber, dessen literarisches Schaffen lückenlos in meinem Bücherregal zu finden ist. Während wir uns einen Tequila nach dem nächsten bestellten, redeten wir über Musik, meine Abneigung gegenüber Berlin, Feminismus und das Schreiben. Er fragte, ob ich schreiben könne, in diesen dunklen, schmerzhaften Phasen. Er nämlich nicht. Er könne nur dann über etwas schreiben – überhaupt schreiben -, wenn er genug Abstand hätte. Ich, das prätentiöse Arschloch, das ich oftmals bin, nickte entschieden. Klar würde ich in diesen Phasen schreiben. Gerade dann. Irgendwoher müsse die Katharsis ja kommen.
Liar, liar, pants on fire.
Zugegeben, an diesem Punkt dachte ich tatsächlich noch, das sei wirklich ein Date. Das erste. Eines, bei dem man ein bisschen Eindruck schinden muss, um dann bei den folgenden die Geschwindigkeit rausnehmen zu können. Eines, bei dem es mehr um die Dinge in meinem Kopf als all jene unter meiner Kleidung geht. Ein bisschen wenigstens.
Aber vor allem: Es gibt dieses Narrativ des leidenden Künstlers, von dem ich immer dachte, ich müsste ihm entsprechen, immerhin mache ich Kunst und leide. Jener Künstler, der eben diese dunklen, schmerzhaften Phasen in seiner Kunst verarbeitet; der nahezu manisch Lebensmüdigkeit, Depression und Wahnsinn zu atemberaubend schönen, im besten Fall viel zu rohen Metaphern verarbeitet. Dieser Künstler ist verrückt und selbstzerstörerisch (lookin‘ at you, Vincent Willem van G.), aber das ist schon okay, denn all das ist etwas wert. All das ist nur halb so schlimm, wenn man etwas schönes daraus macht. Mein Überleben folgt so lang einem Sinn, solang es Kunst produziert, richtig? Jenes Leid, das mit den letzten fast 32 Jahren einherging, ergibt Sinn, solange ich nur ausreichend schreibe/male/fotografiere/ganzegalhauptsachekunst, richtig?
Denn das wäre eine Antwort auf diese eine Frage: Man überlebt das Überleben, indem man es nimmt und sich zu eigen macht; Grauen in Worte bändigt; alles, was verloren ist, nicht ganz verloren glaubt – solang es die richtige, verdammte Metapher gibt.
Aber hier ist diese Geschichte noch nicht vorbei.
Vor ein paar Wochen sitze ich auf den kalten Fliesen meines Badezimmers und presse die Füße gegen die geschlossene Tür. Immer wieder. Anspannen – loslassen. Anspannen – loslassen. Anspannen – loslassen. Ich habe nach vier Tagen endlich aufgehört zu schwitzen, doch die Übelkeit ist noch lange nicht vorbei. Jeder Muskel meines Körpers tut weh, ich meine, die Neuronen in meinem Hirn flüstern zu hören. Wie es aussieht, sollte man Antidepressiva auch dann nicht plötzlich absetzen, wenn man sie nicht bereits seit Jahrzehnten nimmt. Jemand schreibt, fragt wie es mir geht, fragt, wie es mit dem Schreiben läuft. Ich lüge meistens über beides, doch diesmal schreibe ich: Beschissen. Und: gar nicht. Wäre zu beschäftigt damit, zu überleben, auch wenn sich das hier eher wie Sterben anfühlt. Die Antwort kommt schnell. Du kannst nicht trotzdem schreiben? Ich schon. Ich kann komplett losgelöst von allem schreiben. Ich denke: Fick dich. Dann übergebe ich mich zum letzten Mal in dieser Nacht. Ich schlafe auf dem Badezimmerboden, denn ich bilde mir ein, dort nicht zu träumen.
Das Narrativ des leidenden Künstlers ist nicht nur die Sinnstiftung des Überlebenden, der leidende Künstler ist auch der ultimative Schwanzvergleich. Jemand ist gestorben? Die Welt steht in Flammen? Du willst alle Antidepressiva auf einmal schlucken? Schreib doch einfach ein gottverdammtes Gedicht. Oder ein Haiku. Bemal jede Leinwand. Lass sie zusehen, wie du brennst, hauptsache du brennst hell und warm für jeden Umstehenden. Sei wie sie: leide. Aber dann sei besser. Sei besser als alle, denn du leidest wie sie – aber du leidest schön. Du leidest abstoßend, aber in den richtigen Farben. Du leidest auf Papier, Leinwand, in 10×13 – oder lieber 13×17? Ganz egal was es ist, hauptsache du machst es dir zu eigen. Das machen wir alle. Und an dieser Stelle, frei nach Lauren Groff: Schreibst du, weil du leidest, oder schreibst du, damit wir alle sehen, wie sehr du leidest?
Ich habe in den letzten Monaten keinen einzigen guten Text geschrieben. Ich konnte nicht. Wann immer ich mich hinsetze, um zu schreiben, beginnen meine Finger zu zittern und die Angst schnürrt mir die Kehle zu. Das sind die guten Tage. Von denen habe ich wenige. An den meisten Tagen kann ich kaum das Bett verlassen, obwohl ich, sobald ich einschlafe, wirklich schlimmen Scheiß träume. Das Problem dabei ist: Dieser Scheiß ist wahr. Den trägt man mit sich herum, ob man will oder nicht. Deshalb bleibe ich liegen. Das letzte Jahr hat etwas mit mir gemacht. Ich leide. Ich bin Künstlerin. Aber ich bin keine leidende Künstlerin, denn ich habe keine Ahnung, wie man überlebt, wenn man überlebt hat. Aber ich arbeite daran.